Meditation in Bewegung: Yoga
Achtsamkeit gehört untrennbar zu einer sinnvollen Yogapraxis. Warum das so ist und weshalb man sich nicht zur Brezel verknoten muss – darum geht es in diesem Text.
(Er ist bereits 2017 im Achtsamkeitsmagazin moment by moment erschienen.)
Auch wenn die vielen tollen Fotos von hyperbeweglichen schlanken Frauen in akrobatischen Körperhaltungen anderes vermuten lassen: Im Yoga geht es um unseren Geist. Im wichtigsten Quellentext – dem Yoga Sutra des Patanjali – lesen wir, dass das Ziel der Praxis darin liegt, die Gedankenwellen zu beruhigen und den Geist in eine dynamische Stille zu führen. Dann erst ist unser Blick auf das Leben ungetrübt. Wir können intelligent handeln, die Herausforderungen des Lebens gleichmütig bewältigen und erkennen, wer wir im Kern wirklich sind.
Der Yogaweg besteht aus viel mehr als nur den bekannten Körperübungen. Auch von Meditation, Atemübungen sowie Verhaltensempfehlungen für den Umgang mit uns selbst und anderen ist im Yoga Sutra die Rede. Wenn wir dem Pfad folgen, den Patanjali in seinem Werk beschreibt, dann kommen wir mehr und mehr mit jenem Anteil von uns in Verbindung, der im Yoga als „innerer Zeuge“ beschrieben wird. Gemeint ist jene Instanz, die die Dinge mit stabiler, offener und freundlicher Klarheit betrachten kann. Die nicht bewertet und verurteilt. Die völlig ruhig bleibt inmitten des Wirbelsturms von Empfindungen, Gedanken und Gefühlen. Wenn unser innerer Zeuge aktiv ist, handeln wir nicht mehr reaktiv, sondern können ungünstige mentale Muster unterbrechen und durch günstigere neue Gewohnheiten ersetzen. Yoga bedeutet also auch, intelligent zu handeln.
Erste Verbindungslinien zwischen Yoga- und Achtsamkeitspraxis dürften nun bereits sichtbar geworden sein. So schreibt etwa Jon Kabat-Zinn in seinem Grundlagenwerk „Gesund durch Meditation“: „Im MBSR-Ansatz [...] geht es genau darum, uns dessen bewusst zu werden, was sich von Augenblick zu Augenblick in unserem Geist abspielt[...].“ Er definiert Achtsamkeit als „Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt.“ Wir üben, unseren Fokus behutsam und konsequent immer wieder „zurückzulenken zu dem, was in diesem Augenblick für uns von Bedeutung ist, um uns erneut damit zu verbinden.“
Die innere Haltung macht es zu dem was es ist
Die Yogapraxis unterscheidet sich eben genau durch die innere Achtsamkeit von anderen Körperübungswegen. Im Mittelpunkt steht nicht die Wirkung auf Muskeln, Knochen und Faszien – auch wenn die bei richtiger Anleitung positiv und wünschenswert ist. Es geht auch nicht darum, Beine und Arme kunstvoll zu verknoten. Zum Yoga wird die Praxis dadurch, dass sie von einem präsenten, ruhigen Geist und einer liebevollen inneren Haltung begleitet wird. Während wir auftauchende Gedanken oder Gefühle mit einer gewissen Distanz wahrnehmen, sind wir gleichzeitig intensiv mit unserem Körper verbunden. Wir lernen, uns wieder besser von Innen heraus zu spüren. „Dabei kann es nicht ausbleiben, dass man sowohl eine größere Vertrautheit mit dem eigenen Körper als auch größeres Vertrauen zu ihm entwickelt,“ schreibt Kabat-Zinn über die Wirkung von Yoga. Wenn wir begreifen, dass wir diesen Körper nicht haben, sondern dieser Körper sind – dann verändert dies unser Verhältnis zu diesem Wunderwerk tiefgreifend.
Eine so ausgeführte Asanapraxis wird zur Meditation in Bewegung. Alles andere ist „nur“ Sport. Davon ist auch Anna Trökes, die seit vielen Jahren zu den profiliertesten Yogalehrerinnen und -autorinnen im deutschsprachigen Raum gehört, überzeugt: „Ich finde es geradezu sträflich Yoga als Workout zu missbrauchen“, sagt sie im Interview. „Dafür gibt es viele tolle Körperübungswege. Aber Yoga hat so viel mehr im Angebot. Wenn ich die Innenschau in den Mittelpunkt meiner Praxis stelle, dann kann ich meinen Haltungs-, Denk- und Fühlmustern auf die Spur kommen und bewusster handeln. Yoga ist nämlich vor allem „atma vidya“ – die Wissenschaft vom Selbst.“
Auf dem Weg zu den Zehenspitzen
Die Körperhaltungen sind Mittel zum Zweck: Die entscheidende Frage ist, was wir auf dem Weg zu den Zehenspitzen lernen können. Wir richten uns nicht verbissen auf das Ziel aus, eine Haltung irgendwann perfekt zu können, sondern erforschen was während des Übens auftaucht: Wie gelingt es uns mit Grenzen umzugehen? Können wir akzeptieren, dass jeder Tag anders ist? Welches Maß an Bemühung und Beharrlichkeit führt uns in gesunden Schritten zum Ziel? Oder nehmen wir unser Leistungsdenken mit auf die Matte und schaden uns mit falschem Ehrgeiz, verletzender Kritik und Härte?
Wenn der Wunsch sehr stark ist, ein bestimmtes Asana zu „können“, dann liegt die wahre Übung darin, dieses Begehren zu erforschen: Warum haften wir so daran? Was versprechen wir uns davon? Welches Bedürfnis liegt wirklich dahinter? (In wie vielen wirklich wichtigen Momenten deines Lebens hast du bisher gedacht: Ach, wenn ich jetzt nur den Spagat könnte, dann wäre mein Problem gelöst! Eben.)
Wenn ein kompetenter Lehrer diesen Prozess begleitet, wird Yoga zur Geistes- und Herzensschulung. „Wenn ich achtsam übe, kann ich mich intensiv erfahren“, so Anna Trökes. „Das führt naturgegeben dazu, dass ich mir selbst näher komme. Yoga bedeutet ja sinngemäß „Verbindung“. Zunächst treten wir dabei mit uns selbst in Beziehung. Das ist die Grundlage dafür, dass wir echte Verbundenheit mit anderen erleben können. Und das ist für uns Menschen, die wir ein soziales Gehirn besitzen, unglaublich wichtig.“
Dem geklärten Geist wird ein warmes, offenes Herz zur Seite gestellt. (Selbst-)Mitgefühl und liebevolle Akzeptanz sind unverzichtbare Begleiter der Praxis. „Das Studium unseres Selbst, das im Yoga immer auch mit der Herzensbildung verbunden ist, lädt uns ein, Verständnis und Mitgefühl für unser eigenes Gewordensein zu entwickeln und uns zunächst einmal so anzunehmen, wie wir sind,“ schreibt Anna Trökes in ihrem Buch „Yoga der Verbundenheit“. Der innere Zeuge wertet nicht. Der amerikanische Yogalehrer, Psychotherapeut und Autor Stephen Cope geht sogar noch weiter: „Das erste Gesetz des Zeugen lautet, dass ohne Selbstakzeptanz keine präzise Selbstbetrachtung möglich ist. [...] Wenn wir unsere Erfahrungen beurteilen oder kritisieren, ist es nicht möglich, voll und ganz präsent zu sein.“
Ähnliches findet man ins Kabat-Zinns Grundlagenwerk. Er spricht von Achtsamkeit als „radikalen Akt der Liebe“ und verweist unermüdlich darauf, dass wir nicht vergessen dürfen, dass mit Achtsamkeit „nicht nur eine Dimension des Geistes gemeint ist, sondern immer auch die des Herzens“.
Vertrauen & Hingabe
In den kostbarsten Momenten der Yogapraxis kommen wir schließlich mit dem in Kontakt, das in uns liegt und doch größer ist als wir selbst. Wir erkennen, wer wir in Wirklichkeit sind. Wir erfahren unser Eingebettet-sein in das Netzwerk des Lebens. Ein tiefes Vertrauen darf mehr und mehr wachsen. Auch daraus resultiert der angestrebte Gleichmut: Ein Yogi bleibt gelassen, weil er zutiefst verstanden hat, dass er nicht alles machen oder lenken kann. Dass das Leben uns auch Hingabe und Demut abverlangt. Bei Patanjali ist hier explizit von Gott die Rede. Mit „Ishvara Pranidhana“, einer der Verhaltensempfehlungen im Yoga Sutra, meint er das, was wir gemeinhin als „Gottvertrauen“ kennen. Für manche mag es stimmiger sein, von der natürlichen Intelligenz des Lebens oder dem großen Ganzen zu sprechen.
Es bleibt zu hoffen, dass immer mehr Übende die natürliche Verbindung zwischen Yoga und Achtsamkeit intuitiv oder durch die richtige Anleitung erkennen und entwickeln. Und erst wenn wir unsere Erfahrungen von der Matte in den Alltag tragen, dann schöpfen wir das Potenzial dieser jahrtausendealten Praxis wirklich aus.
Dieser Artikel ist zuerst im Achtsamkeitsmagazin “moment by moment” erschienen (Ausgabe 2/2017).